Wider der Verdrängung
Anders als wir es aktuell gesellschaftlich angehen: Mit Schmerz und Verlust erwachsen umzugehen heißt nicht, so schnell wie möglich den Schmerz und seinen Auslöser zu verdrängen. Es heißt nicht, so schnell wie möglich zur so genannten Normalität zurückzukehren.
Heilsam mit Verlust umzugehen, heißt ihn zu betrauern. Es heißt, den Schmerz und die Trauer anzunehmen und damit zu leben – und langsam mit der Zeit etwas Neues daraus erwachsen zu lassen.
Wir alle haben durch die Pandemie Verluste, Schmerz und Trauer auf verschiedenen Ebenen erlebt und erleben dies noch immer. Lasst uns endlich darüber sprechen.

Trauer um Verstorbene
Mehr als 185.000 Menschen sind seit März 2020 nach offiziellen Zahlen in Deutschland an einer akuten Corona-Infektion gestorben, rund 23.000 in Österreich, 15.000 in der Schweiz. Mehr als 220.000 Menschen allein in diesen drei Ländern. Hinzu kommen unzählige, die nicht als Corona-Tote erfasst sind, sondern sich nur in der Übersterblichkeit wiederfinden.
Im Schnitt berührt jeder Todesfall zehn Menschen. Das heißt: Es sind mehr als 2 Millionen Menschen, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die direkt um einen an Covid-Verstorbenen trauern. Mehr als 2 Millionen Menschen, die eine Lücke spüren, deren Leben nie wieder so sein wird, wie davor.

Trauer um den Verlust von Gesundheit
Von chronischem Husten und Kurzatmigkeit, über neu entwickelte Migräne und Tinnitus, dauerhaften Konzentrations- und Wortfindungsstörungen bis hin zu Diabetes, Fatigue und ME/CFS – die Spannbreite der Schäden durch Covid ist groß.
Zwischen 5 bis 10 Prozent aller Infizierten behalten Symptome zurück, entwickeln Long-Covid (konservativ geschätzt). Hundertausende, vermutlich gar Millionen von Menschen betrauern daher zurzeit den Verlust (von Teilen) ihrer Gesundheit. Hinzu kommt: die fehlende gesellschaftlichen Anerkennung des eigenen Leidens. Die Abwertung als schwach, als hypochondrisch, als psychisch krank.
Long oder Post Covid ist die unterschätzte Volkskrankheit geworden. Eine Folge von Covid, die viel zu wenig sichtbar und damit den meisten viel zu wenig bewusst ist. Denn viele Betroffene sprechen selten darüber – oder sind gesellschaftlich nicht sichtbar. Hinzu kommen all die, die sich ihre neuen gesundheitlichen Probleme nicht erklären können, weil eben das Bewusstsein für Long Covid fehlt.

Trauer um den Ausschluss von sozialer Teilhabe
Wie viele Menschen aufgrund fehlenden Infektionsschutzes von der Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen sind, lässt sich schwer beziffern. Gastronomie und Clubs klagen jedoch weiterhin über geringere Besucherzahlen als vor der Pandemie – und vermutlich ein Teil der Besucher fehlt, weil sie weiterhin Freizeitaktivitäten in Innenräumen meiden.
Es gibt also einen Teil der Bevölkerung, der nicht mehr am sozialen Leben teilnimmt, da es für sie außerhalb ihrer Wohnung keinerlei Infektionsschutz mehr gibt. Nicht in Theatern, Kinos, Museen und allen anderen Orten, an denen sich Menschen zum Vergnügen treffen. Sie nehmen nicht teil, weil sie für ein paar schöne Stunden das Risiko einer Infektion nicht auf sich nehmen wollen oder dürfen. Oder weil sie aufgrund von Krankheit und Behinderung nicht mehr daran teilnehmen können.
Dies sind Menschen, die es in der Öffentlichkeit nicht mehr gibt. Menschen, deren Geschichten in unserer aktuellen Gesellschaft nicht gehört werden.

Trauer um die erträumte Zukunft
Covid hat nicht nur unsere reale Welt verändert, es hat auch unsere Träume und Pläne für die Zukunft verändert. Das, was wir uns für die Zukunft vorgestellt haben, ist nicht mehr.
Zum Teil, weil wir gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind. Zum Teil, weil wir unser Leben den realen Gegebenheiten einer Pandemie anpassen (müssen).
Lebe deine Träume! Doch was ist, wenn eine Reise nach dem Abitur zu riskant ist, weil es weder in Zügen noch Flugzeugen Infektionsschutz gibt? Was ist, wenn der Traumberuf nicht erlernt werden kann, da man dort zu viel Kontakt mit Menschen hätte und eine FFP-Maske nicht mehr gern gesehen ist?
Auch das, was nicht ist und was nicht sein kann, gilt es betrauern.

Trauer um Beziehungen zu Partnern, Familie und Freunden
Viele von uns haben in den letzten Jahren Freunde und Verwandte verloren. Nicht, weil sie gestorben sind. Einfach, weil es unterschiedliche Vorstellungen gibt, wie mit Sars-Cov-2 umgegangen werden soll.
Freunde und Verwandte, die nicht verstehen, warum man die Einladung zu einem Event ohne Infektionsschutz ablehnt – und die einen irgendwann nicht mehr einladen. Beziehungen, die scheitern, weil einer der beiden keine Lust mehr auf Infektionsschutz hat, während der oder die andere sich weiterhin schützen möchte.
Bei all den Bemühungen Corona und seine Folgen unsichtbar zu machen, ist diese Ebene vielleicht die schmerzhafteste: die Wahl zwischen gesundheitlichen Risiko oder gesellschaftlichem Ausschluss.
