Zwei Portrait-Fotos von Nils : einmal 2020 und einmal 2025

Nils Winklers persönliches Monster danach

Ich war kerngesund, ein sogenannter „Leistungsträger der Gesellschaft“. Im Begriff, den nächsten Karriereschritt zu wagen. Vom Manager in einem internationalen Großkonzern zu einem größeren Mittelständler in den Vorstand. Das war auch mein langgehegter Wunsch, denn für Konzerne bin ich nicht gemacht.

Anfang Februar 2020, erste Nachrichten zu Corona machten die Runde, gingen wir auf eine sogenannte „Kurz-Kreuzfahrt“, nur zwei Tage von Kiel nach Oslo und zurück. Einfach mal rauskommen. An Bord war mir schon aufgefallen, dass viele schnieften. Und ich kann mich erinnern als wäre es gestern, dass bei Ankunft am Ausgang, in der Menschenmenge, ein älterer Herr direkt hinter mir stand, der aussah wie der Tod. Er war auch dauernd am Husten. Eine Woche später ging es bei mir los mit grippigem Gefühl. Schnell kam eine unglaubliche Kurzatmigkeit dazu, ein unbeschreiblicher trockener Husten, der wahlweise bis zur Ohnmacht oder zu Erbrechen ging. Kurz: Mich hatte es heftig erwischt.

Zu allem Unglück war mein damaliger Hausarzt selber im Krankenhaus, aber für mich per Whatsapp zu erreichen. Er riet mir ein Pulsoxymeter für den Finger zu kaufen und sagte: „Wenn der Sauerstoff dauerhaft unter 90 fällt, ruf 112“. In meinem kranken Kopf habe ich nicht realisiert, was das bedeutet. Über fast drei Wochen war der Sauerstoff irgendwo zwischen 75 und 80. Manchmal niedriger. Und ganz selten mal kurz bei 90. Also habe ich gedacht: er ist ja nicht dauerhaft unter 90 – alles halb so wild. Heute weiß ich, dass es auf Messers Schneide stand. Aber wäre ich ins Krankenhaus gekommen, hätten sie mich lange beatmet – was nicht wenigen auch massiv geschadet hat…

Die akuten Symptome klangen ab – die Müdigkeit blieb

Nach Wochen klangen die akuten Symptome ab, aber der Reizhusten begleitete mich noch bis 2021 hinein. Und ich kam nicht mehr auf die Beine. Hatte keine Energie, war nicht belastungsfähig, hatte Erinnerungslücken und war nicht „switched on“, wie früher, sondern konnte kaum klare Gedanken fassen. Geschweige denn, sie formulieren.

Den Job, für den ich in Vertragsverhandlungen war und den ich mir wirklich gewünscht habe, musste ich absagen. So konnte ich doch kein Vorstandsmandat annehmen! Ich hätte ja gar nicht den Anforderungen genügen können.

Ich wusste: Vieles ist ganz gründlich falsch. Aber niemand hatte eine Antwort für mich. Long Covid gab es ja längst noch nicht. Über den Sommer entwickelten sich dann weitere Symptome, manchmal kamen täglich welche dazu, manchmal auch nur ein Mal in der Woche. Die volle Lotte von Symptomen, die für ME/CFS typisch sind, wie ich heute weiß. Aber ich wusste es nicht.

Deswegen bin ich über die Grenzen gegangen, um wieder in Fahrt zu kommen. Als Radfahren nicht mehr ging, weil die Kraft nicht mehr reichte, kaufte ich ein eBike. Aber auch nach Ausflügen damit brach ich zusammen, bekam schlimmstes Herzrasen und Fieber. Und lag lange flach.

Was mit mir los war? Die Suche nach einer Diagnose

An dem Punkt nahm ich Kontakt mit meiner Schulfreundin Gitta Meier auf, einer Arbeitsmedizinerin in Berlin. Sie hatte auch keine Antwort, aber medizinischen Sachverstand und Freude an Detektivarbeit. Und ich wusste als früherer politischer Journalist, wie man recherchiert und die Spreu vom Weizen trennt. Über ein Jahr habe wir uns die Bälle zugespielt.

Aber erstmal war ich Ende 2020 in einer Reha. Das volle klassische Programm mit Aktivierung. Ich war am Ende. Da sprach mich der Psychologe dort an, warum mein Augenlied hänge – das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Und ich erzählte ihm, wie sehr mir das Reha-Programm schadet. Er machte dann einige Tests und sagte: Das ist nicht psychisch, das ist eindeutig somatisch und könnte ME/CFS sein. Was? Nie gehört.

Und so ging die Detektivarbeit weiter, allerdings zielgerichteter. Über die folgenden Monate bauten Gitta und ich sehr viel Wissen auf, und mein Hausarzt machte mit, auch mein Neurologe. Wenig später stand die Diagnose fest: ME/CFS. So komisch es klingt, mir fiel ein Stein vom Herzen. Denn endlich wusste ich, was mir fehlt.

Wir hatten so viel Wissen angesammelt: mein ME/CFS-Buch

Gitta und ich entschieden dann, dass es ein Glücksfall ist: Die Kombination aus Arzt und Journalist. Und dass „normale Leute“ nicht leisten könnten, was wir an Wissen aufgebaut haben. Und so ist die Idee vom Buch entstanden, das die Krankheit erklärt, auf dem Weg zur Diagnose hilft und die Krankheit greifbar macht: Das Monster danach.

Im Mai 2022, am Welt ME/CFS Tag, ist es erschienen. Eine Mammutaufgabe, die ich oft im Liegen ins Handy diktierend erledigte und dank meiner Frau, die ebenfalls Journalistin ist und alles redigiert und geordnet hat, und dank des Sachverstands von Gitta und etlichen anderen Fachleuten, ist das Buch gelungen. Das Feedback aus der Community war überwältigend und eine großartige Bestätigung.

Die Anerkennung: ein Kraftakt

Aber mit mir ging es weiter bergab. Langsam. Schleichend. Veränderungen zu letzter Woche kann ich nicht sagen, aber auch heute noch sehe ich, wie viel weniger möglich ist im Vergleich zu vor einem halben Jahr oder einem Jahr.

Natürlich hat in dieser Phase ein enormer existenzieller Druck bestanden. Weder die Rentenversicherung, noch die Berufsunfähigkeitsversicherung wollten zahlen. Das hat nochmal fast eineinhalb Jahre Kampf erfordert, in denen wir vom Ersparten leben mussten, die Altersvorsorge aufbrauchen mussten.

Heute weiß ich, dass die Krankheit massiv mein Gehirn beeinträchtigt hat, es ist degeneriert und Nervenbahnen sind entzündet. Ganz ähnlich wie bei MS. Die Symptome sind auch ählich, wenn man es mal nüchtern betrachtet. Deswegen führen meine Ärzte jetzt „mein“ ME/CFS als MS-Like-Disease, eine Krankheit, die MS ähnlich ist, aber eben kein MS.

Auf Basis dieser Befunde hat die Krankenkasse meinen Antrag auf einen elektrischen Rollstuhl einfach durchgewunken, den ich inzwischen brauchte. Das Versorgungsamt geht aber bis heute von einer Somatisierungsstörung aus, also einer psychischen bzw. psychosomatischen Krankheitsursache. Selbst unumstößliche Befunde, wie ein funktionales MRT des Gehirns, werden ignoriert. Größte Beeinträchtigungen ebenso. Der Kampf geht also weiter. Und ich bin da starrsinnig – ich kann und will mich wehren. Was viele andere nicht können, zum Beispiel weil ihnen die Kraft fehlt (mir aber auch). Aber ich habe eine großartige Anwältin gefunden, mit der es ohne viel Kraftaufwand per eMail geht.

Meine Kraft schwindet

Und das letzte Jahr habe ich, gemeinsam mit Gitta und der Hilfe meiner Frau, das Buch auf Vordermann gebracht. Denn es war ja mitten in der Pandemie erschienen. Seitdem ist viel geschehen und die eine oder andere Hypothese hat sich bewahrheitet. Neue Informationen sind dazu gekommen. Es sind fünf zusätzliche Kapitel geworden und am 12. Mai 2025 ist dann, wieder am Welt-ME/CFS-Tag, die zweite Auflage erschienen. Was mich unglaublich freut: Führende ME/CFS Experten haben beigetragen. Der großartige Dr. Stingl aus Wien und der ebenfalls großartige Prof. Stark aus Hamburg. Und andere empfehlen das Buch den Patienten, die am Anfang der Reise stehen.

Das ist mein persönliches Monster danach. Das Monster, das auf Covid folgte. Das Monster ME/CFS. Eine dritte Auflage werde ich nicht mehr schaffen. Es geht weiter langsam, schleichend in die falsche Richtung. Vom Leben ist sonst nicht viel übrig. Vom früheren, aktiven, leistungsfähigen Menschen auch nicht.

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