Mein Opa Paco 1931 – 2021

Mein Opa Paco – eigentlich Francisco – starb einen Monat vor seinem 90. Geburtstag, an einem Abend im November. Dreieinhalb Wochen nachdem sein Covid-Test zum ersten Mal positiv war; etwas, was eineinhalb Jahre meine schlimmste Befürchtung war.

Er infizierte sich im Altenheim – nur wenige Tage vor seiner Boosterimpfung. Wie ein Lauffeuer raste Covid damals durch das Heim, in dem meine Großeltern seit 6 Monaten lebten. Zwei Drittel der Bewohner und des Personals infizierten sich.

Doch während meine damals 98-jährige Großmutter nach vier, fünf Tagen schon wieder fast gesund, nach circa einer Woche negativ war, ging es meinem Großvater nicht besser. Auch wenn er keinen Husten und kein Fieber hatte – seine Arme, Beine, Organe schmerzten. Seine Impfung hatte vermutlich aufgrund des Lymphdrüsen-Krebs, den er 10 Jahre zuvor hatte, kaum angeschlagen.

Mein Großvater verstand nicht, warum ich nicht bei ihm sein durfte

Angehörige durften nicht ins Altenheim – und so konnte ich mit meinen Großeltern nur telefonieren. Irgendwann nur noch mit meiner Großmutter, während mein Großvater im Hintergrund nach mir rief. Normalerweise besuchte ich die beiden zwei- bis dreimal die Woche.

Nun dachte mein Großvater in seiner Demenz, ich sei wütend auf ihn und würde ihn daher nicht besuchen. Es zerriss mir das Herz, ihn nach mir rufen zu hören. Denn mein Opa und ich hatten mein ganzes Leben lang eine ganz besonders enge Beziehung.

Dann kam eines Nachts der Anruf: Mein Großvater war als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Während ich über mein Handy meine völlig aufgelöste Großmutter beruhigte und solange am Telefon hielt bis sie irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen war, versuchte ich parallel über Festnetz den verantwortlichen Arzt im Krankenhaus zu erreichen.

Es gab keine Hoffnung mehr

Als ich den Arzt sprechen konnte, war schnell klar: Es gab eigentlich keine Hoffnung, dass mein Großvater überleben würde. Nierenversagen.

Auf der Intensivstation wäre sein Sterben nur verlängert worden. An Schläuchen, allein. So bat ich den Arzt, meinen Großvater wieder ins Altenheim zu überführen. Dort wäre er wenigstens bei meiner Großmutter.

Als mein Großvater am nächsten Tag ins Heim zurückkam, erlaubte mir die Pflegeleitung ihn für eine Stunde zu besuchen. Der Sterbeprozess hatte begonnen und mein Großvater konnte unter dem Morphium, das er bekam, seine Augen schon nicht mehr öffnen, nicht mehr sprechen, doch er hörte mich und spürte meine Berührung. Zum Abschied sagte ich ihm, da er noch positiv sei, dürfe ich nicht länger als eine Stunde bleiben. Käme aber am nächsten Tag wieder.

Fünf geschenkte Tage

Dann geschah ein kleines Wunder: Am nächsten Tag war der PCR-Test meines Großvater negativ. Als hätte sein Körper noch einmal alles gegeben, damit ich länger bei ihm sein durfte.

Im Heim wütete noch immer Corona. Doch meine Großeltern waren nun beide negativ. Auf eigene Verantwortung setzte ich durch, im Altenheim – bei ihnen im Zimmer – zu bleiben. Auch über Nacht.

Fünf Tage saß ich rund um die Uhr am Bett meines Großvaters, übernahm einen Teil seiner Pflege; wie ich es zuvor fünf Jahre zuhause getan hatte. Ich wusch sein Gesicht, cremte ihn ein, befeuchtete seine Lippen und den Mund. Zwei FFP2-Masken übereinander, die Schlaufen am Hinterkopf festgemacht; auch während der wenigen Stunden, die ich im Sessel neben seinem Bett schlief.

Fünf Tage, in denen wir uns an den Händen hielten, in denen meine Großmutter und ich meinem Großvater noch einmal unser gemeinsames Leben erzählten und in denen wir oft einfach nur gemeinsam Musik hörten: Los Hermanos Rigual, Manolo Escobar und viele andere (spanischsprachige) Stars der 1960er. Mein Großvater mittendrin, mit geschlossenen Augen, doch spürend, dass wir bei ihm waren. Manchmal tanzten seine Hände zur Musik und er versuchte leise mitzusingen. So wie er sein ganzes Leben lang immer fröhlich vor sich hin gesungen hatte.

Mein Großvater und meine Großmutter waren 60 Jahre unzertrennlich

Mein Großvater war 1960 nach Deutschland gekommen, mit einem Zug aus Madrid, einen Arbeitsvertrag bei einem Autozulieferer in der Tasche. Wie so viele wollte er nur ein Jahr Geld verdienen und dann wieder zurück nach Spanien. Doch wenige Wochen später lernte er meine Großmutter kennen und aus dem einen Jahr wurden 61.

Für 61 Jahre waren meine Großeltern unzertrennlich. Mein Großvater mochte nie länger als ein paar Stunden ohne meine Großmutter sein. Stundenlang saßen sie – früher zuhause auf der Couch, dann im Altenheim in ihren Rollstühlen – Händchenhaltend nebeneinander.

So belastend die Situation war, so bin ich doch glücklich, dass mein Opa bis zu seinem letzten Atemzug in unserer Mitte war und er mit meiner Oma, der Liebe seines Lebens, Händchenhaltend sterben konnte; wie er es sich vermutlich gewünscht hatte.

Historia de un amor von Los Hermanos Rigual

P.S. Auch wenn wir aus der Situation das Beste gemacht haben. Die insgesamt 7 Tage, die ich während des Corona-Ausbruchs im Altenheim lebte, waren die belastendsten meines Lebens. Nicht nur, weil ich meinen Großvater beim Sterben begleitete und bis auf die wenigen Minuten, die ich zum Essen vor die Tür ging, 24 Stunden am Tag eine bzw. zwei FFP-Masken trug.

Allein auf der Station, auf der meiner Großeltern lebten, verstarben in der Woche, in der ich Heim war, noch drei weitere Menschen. Menschen, die ich kannte und schätzte. Insgesamt waren es es fast 30 Bewohner:innen, die während dieser Krankheitswelle starben.

Nadja

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